Frau Holle
Wenn man auf der Staatsstraße von Aschaffenburg gegen Haibach wandert, so kommt man dem Dorf Schweinheim gegenüber an einem Felddistrikt vorbei, welcher die Bezeichnung "Bei der Frau Holle" führt.
Es ist jetzt dort, und zwar hart an der Straße rechter Hand, ein großer tiefer Steinbruch in welchem graue Gneissteine gebrochen werden, die von ungemeiner Härte sind. Vor dem befand sich dort ein kleines Felseneiland von ungefähr 40 -50 Meter Länge und Breite. Die Felsen ragten nicht viel über den Wiesenboden hervor, etwa in Tischhöhe, manche waren höher und manche auch niederer, aber alle waren auf der oberen Seite ziemlich flach. Auf diesen Steinen waren überall verschiedener Vertiefung anzusehen, so ungefähr, als wenn sich eine menschliche Person auf feuchten, weichen Erdboden setzt und die tief eingedrückten Spuren dann in dem Boden zurück bleiben. Dabei gewahrte man auch kreisrunde und ovale Spuren, als wenn diese Person einen Handkorn neben sich und einen Huckenkorb hinter sich gestellt hätte. An letzterem konnte man sogar die vier Stollen des Korbes unterscheiden. Ferner konnte man Spuren sehen, die so aussehen, als wenn sich einer Person der Länge nach rückwärts auf den Stein gelegt und endlich, besonders auf niederen Steinen, als wenn jemand diese als Knieschemel benutzt hätte.
Als mit dem Steinbrechen begonnen wurde(, es mögen wohl ungefähr 30 Jahren her sein,) konnte man diese Vertiefung und Eindrücke auch noch in den darunter liegenden Gesteinsschichten wahrnehmen. Die Steine waren wie gebogen. Die Vertiefung waren freilich nicht mehr so scharf ausgeprägt wie auf der Oberfläche und verschwanden allmählich mit zunehmender Tiefe. Man hätte meinen können, denn es sah genauso aus, die Steinassen seien noch ganz weich gewesen, als sich ein menschliches Wesen darauf setzte, sie hätten den Druck bis in ca. ein Meter tief nachgegeben und sich dann erst erhärtet.
Einer alten Sagen nach berührten diese Spuren von der Frau Holle her, die hier ihren Ruheplatz hatte. Von der Frau Holle erzählte man sich früher gar mancherlei Sagen und Geschichten. Sie tritt darin auf als alte Hausiererin, die ihre Waren in einem Handkorb und einem Huckenkorb bei sich trug. Sie war mit geheimnisvollen Kräften und Fähigkeiten ausgestaltet. Den Armen und Hilfsdürftigen stand sie gerne bei, die Bösen und Hartherzigen bestrafte sie.
So kam sie einst gegen Abend zu einer wohlhabenden Bäuerin und bot ihre Waren an mit der dringenden Bitte ihr doch eine Kleinigkeit zu kaufen, weil ihr zum Nachtquartiere noch einiges Geld fehle. Die Frau wies sie hartherzig ab mit der kränkenden Bemerkungen, dass man solch rumziehendes Gesindel nicht unterstützen dürfe. Frau Holle wandte sich zum Gehen und sprach: "Die paar Heller hätten euch auch nicht arm gemacht. Aber ehe neun Tage vergehen, sollt auch ihr erfahren, wie hart es ist, kein Obdach zu haben. Ihre Worte gingen in Erfüllung. Wenige Tage darauf ging die gefühllos Bäuerin in die Stadt, um Einkäufe zu besorgen. Auf dem Heimweh fing es bereits zu Dunkeln an und sie geriet in ein kleines Gehölz, das an ihrem Weg vorbei führte. Sie konnte sich nicht mehr zurechtfinden und irrte die ganze Nacht in dem kleinen Wäldchen umher bis sie schließlich vor Ermattung todesmüde nieder sank.
Ihrer Angehörigen suchten sie überall und fanden sie am zweiten Tag in niederem Gesträuch nahe am Wege, nachdem sie also einen Nacht den folgenden Tag und eine zweite Nacht ohne Obdach im Freien zugebracht hatte. Die Frau war so erschöpft, dass sie sich nicht erheben, ja nicht einmal ein Wort sprechen konnte. Nach Hause gebracht, bedurfte sie mehrere Tage der Ruhe, bis sie sich von der ausgestanden Angst wieder erholt hatte. Sie erzählte dann, sie hätte die Leute vorbei gehen hören, jedoch nicht mehr die Kraft besessen zu rufen oder sich sonst bemerkbar zu machen. Von dieser Zeit an war die Bäuerin wie umgewandelt und wies nie mehr einen Notleidenden oder Hilfesuchenden von der Türe.
Nach anderen Erzählungen war Frau Holle eine Art Göttin, die in lichter Gestalt an der Spitze eines großen Gefolges des Nachts durch die Lande zog. Einst ging ein Mann nach vollbrachtem Tagwerk zu einer etwas entfernt liegenden Mühle, um sich dort einen Stummel Mehl zum Brot backen zu holen. Er war jedenfalls arm, denn sonst hätte er keinen Sack Mehl auf seinen Schultern heim zu tragen brauchen. In der Mühle hielt er sich etwas lange auf, und es war schon ziemlich spät, als er mit seiner Last den Rückweg antrat. Nachdem er ein Stück des Weges gegangen war, sah er auf einmal einen gespenstischen Zug vor sich. Dies war die Frau Holle, die mit ihrem Gefolge nahe an ihm vorbei zog. Unser Mann war kein Feigling. Er stand in Achtung still, zog seine Mütze, grüßte Frau Holle ehrerbietig indem er sprach: "Grüß dich Gott Frau Hull mit deinem ganzen Gezull! " Frau Holle dankte huldvoll indem sie erwiderte: "Grüß dich Gott, Mann mit deinem Sack, dei Frau soll's ganze Jahr draus back! " Dann zog sie mit ihren ganzen Gefolge weiter. Der Mann trug sein Mehl ruhig nach Hause und es ward wie gut geheißen. Der Mehlsack wurden nie leer, so oft seine Frau Brot gebacken hatte war er sogleich wieder von selbst voll und so ein ganzes Jahre hindurch.