Junker Reiner von Heydebach und die drei Kreuze
In der Nähe des Dorfes Haibach stand einst eine Burg, die von einem edlen Junker von hohem Wuchs und ebenmäßiger Gestalt bewohnt wurde.
Der Junker von Heydebach entzückte jedoch nicht nur durch sein schönes Äußeres, auch in den ritterlichen Künsten wie Fechten und Jagen war er wie kaum ein Zweiter. Und wenn der junge Recke so im seidenen Gewand auf edlem Ross dahersprengte, der weiß-blaue Federschmuck auf seinem samtenen Barett keck wippte, dann schlug wohl so manches Mädchenherz bei seinem Anblick höher.
Freilich, einen großen Fehler hatte der adelige Jüngling! Er war ein Bruder Leichtfuß, der es mit der Liebe nicht so genau nahm. Er entflammte beim Anblick jeder Schönen, gleich ob sie von hohem Söller blickte oder aus dem kleinen Fenster einer armseligen Hütte.
Nun begab es sich aber, dass zwei Hintersassen des Junkers je eine bildschöne Tochter hatten. Maria und Gertrude, die beiden Jungfrauen, waren als Nachbarskinder aufgewachsen und einander so inniglich verbunden, dass sie wie zwei Schwestern waren. Als Junker Reiner wieder einmal in das nahegelegene Aschaffenburg ritt, erblickte er am Wegesrain eine so holdselige und anmutige Gestalt, dass er jählings anhielt, um das Mädchen näher zu betrachten. Maria war es, die gerade Gras schnitt für das wenige Vieh zu Hause im Stall. Mit Wohlgefallen betrachtete Junker Reiner die flinken und graziösen Bewegungen, mit denen das Mädchen Hieb um Hieb mit der Sichel die Grasbüschel schnitt. Als er artig grüßte, erhob sich Maria und errötete; kaum vermochte sie dem Blick des jungen Mannes standzuhalten. Dieser aber stand sofort in hellen Flammen beim Anblick dieses liebreizenden Mädchens. Maria allerdings war es sehr beklommen zumute. Zwar hatte sie schon oft dem Junker mit Beben im Herzen nachgesehen, wenn er an der kärglichen Hütte ihres Vaters vorüberritt, doch immer war ihr schmerzlich bewusst gewesen, dass der Standesunterschied sie wohl nie zu ihm hinführen wurde.
Doch nach dieser Begegnung konnte Maria hoffen. Zwar hielt sich der Junker, der erkannte, dass man dieses fromme, unschuldige Kind umwerben musste, zunächst einmal zurück, doch bald schon wusste er die Bande der Liebe zu knüpfen, und ihre Begegnungen blieben nicht mehr rein zufällig. Anfangs verheimlichte Maria ihre Tändelei auch vor ihrer schwesterlichen Freundin Gertrude und schloss ihre aufkeimende Liebe gleich einem kostbaren Edelstein sorgfältig ein in den Schrein ihres jungfräulichen Herzens. Als sich aber Junker Reiner dem liebenden Mädchen erklärte und ihr ewige Liebe und Treue schwor, da sah sich Maria schon als edle Burgfrau von Heydebach. Im Überschwang ihrer Gefühle wollte sie Gertrude teilhaben lassen an ihrem vermeintlichen Glück. Diese aber, nicht frei von Eitelkeit und Eifersucht, konnte nicht frohen Herzens sein bei dem Gedanken an das Glück der Liebenden. Immer stärker quälte sie der Gedanke, dass sie einst Magd bleiben sollte, wo Maria Edelfrau war. Und war sie nicht auch viel schöner als diese?
Gertrude verstand es, sich zwischen Maria und den Junker zu drängen. Und der Junker, der erkannt hatte, dass er die tugendsame, ehrbare Bauerntochter nicht ohne Eheversprechen verführen konnte, ließ alsbald ab von Maria, um sich der lebhafteren und leichtfertigeren Maid zuzuwenden. Trude, die die Absicht des Junkers wohl verstand, kam ihm auf halbem Wege entgegen, und so fanden sie bald zueinander, ohne dass Maria es erkannte.
Lange konnte jedoch die Untreue des Junkers nicht verborgen bleiben, kamen doch keine Bestellungen mehr, die des Junkers Diener so trefflich und geschickt auszurichten gewusst hatte. Als Maria erkannte, dass sie vom Geliebten getäuscht und verlassen, von der Freundin gar betrogen worden war, wandelte sich ihre sanfte Seele vollständig um.
Sie begann zu hassen, vor allem die falsche Freundin, von der sie glaubte, sie habe geheime Künste angewandt, um ihr den Liebsten abspenstig zu machen. Der Sinn stand Maria nach Rache wenn sie nur erst einmal eine heimliche Zusammenkunft der beiden erlauscht hätte. Als sie eines Abends den Diener des Junkers mit Trude sprechen sah und diese sich daraufhin eilig mit einer Sichel und einem Grastuch aus dem Ort entfernte, ahnte Maria, wohin die gehasste Freundin ging: zu dem Hügel, wo sie Junker Reiner zum ersten Mal angesprochen und sie oft in seinen Armen geruht hatte. An dem ihr so wohl bekannten, traulichen Plätzchen sah Maria denn auch die frühere Freundin, die sinnend und träumend auf ihren Junker wartete.
Marias Blut kam in Wallung, und die blassen Wangen vor Zorn gerötet, stürzte sie auf die Verhasste zu. Sie warf Gertrude ihre Falschheit, ihren Verrat an der Freundschaft vor, nannte sie eine leichtfertige Dirne und erhob gar die Hand mit der Sichel, um ihr einen Schlag zu versetzen. Da ergriff der Zorn auch Gertrude und sie wich dem Schlag nicht aus, sondern schlug dagegen. Der erbitterte Kampf der beiden liebenden Mädchen dauerte so lange, bis beide Herzen aufgehört hatten zu schlagen.
Als der Junker das lauschige Plätzchen seines Stelldicheins erreichte, fand er zwei blutüberströmte leblose Körper, die einst so lieblichen Gesichter verzerrt, die Augen gebrochen.
Die Kunde des schrecklichen Doppelmordes verbreitete sich schnell in der Umgegend und alle sahen den Junker als Urheber des tragischen Verbrechens. Vor dem peinlichen Gericht aber, vor das er geladen wurde, hatten keine Beweise für eine Mitschuld erbracht werden können. Allein ihm war die moralische Verfehlung hinlänglich bewusst. Seine Hände waren zwar rein von Blut, sein treuloses Herz indes nicht, so dass er wusste, dass bei einem Gottesurteil, dem sich zu unterwerfen damals Sitte war, ihm selbst der höchste Richter keinen Freispruch würde erteilen können.
Junker Reiner folgte der Ladung des Gerichtes nicht, sondern verließ nächtlicherweise die Burg seiner Ahnen, sein Heimatland, und pilgerte in einem härenen Gewande zuerst nach Rom und dann ins Gelobte Land an das Heilige Grab.
Mehr als vierzig Jahre waren vergangen - die Burg und die Güter des Junkers waren Lehen des Stiftes Sankt Peter und Alexander zu Aschaffenburg geworden. Nach etlichen Jahren, als der Junker als verschollen galt, zog das Stift die Leben ein und ließ die Burg brechen. Wo Maria und Gertrude ihr Leben ausgehaucht hatten, wurden zwei steinerne Kreuze errichtet, auf denen je eine Sichel eingehauen war.
Schon lange war die Erinnerung an den Junker verblasst, als man eines Tages zwischen den Kreuzen einen Pilger mit schneeweißem Haar und einem Muschelhut entdeckte. Er schien zu schlafen, aber als man ihn wecken wollte, stand er nicht mehr auf, denn er schlief den ewigen Schlaf. Es war der einstmals so stolze Junker von Heydebach.
Das Alter, die bittere Reue und die Gefahren seiner langen Pilgerschaft hatten sein Haar erbleichen und seine Lebenskraft brechen lassen. Für ihn wurde nun ein drittes Kreuz errichtet, um ein Zeichen zu setzen, dass der Tod versöhnt und vereint.
Die drei Kreuze stehen für Maria und Gertrude und den Junker
Reiner von Heydebach.